So paradox es klingt: Die Entwicklung des Lebens im urzeitlichen Ozean kann uns einiges über die Zukunft unserer Gesellschaft lehren. Da im Zeitalter der digitalen Vernetzung kein Geheimnis mehr sicher ist, stehen wir an der Schwelle einer Epoche, die das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatleben ganz neu definieren muss.
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Vor rund 543 Millionen Jahren ereignete sich die so genannte kambrische Explosion: eine spektakuläre Häufung biologischer Innovationen. Binnen weniger Millionen Jahre – nach geologischen Maßstäben fast augenblicklich – entwickelten Lebewesen völlig neue Körperformen, neue Organe, neue Strategien für Angriff und Verteidigung. Die Evolutionsbiologen streiten noch über die Ursache dieser erstaunlichen Welle von Neuerungen. Aber eine besonders überzeugende Hypothese des Zoologen Andrew Parker von der University of Oxford besagt, dass Licht der Auslöser war. Parker zufolge wurden damals die seichten Ozeane und die Atmosphäre durch plötzliche chemische Veränderungen viel lichtdurchlässiger. Zu jener Zeit gab es nur in den Meeren tierisches Leben, und sobald Sonnenlicht das Wasser durchdrang, wurde Sehkraft zum entscheidenden Evolutionsvorteil. Zugleich mit der rapiden Entwicklung von Augen entstanden auch entsprechend angepasste Verhaltensformen und weitere körperliche Besonderheiten.
Während zuvor alle Wahrnehmungen nur die nächste Nähe erfassten – durch direkten Kontakt oder durch Gespür für chemische Konzentrationsänderungen oder Druckwellen –, konnten Tiere nun auch entfernte Objekte identifizieren und verfolgen. Raubtiere schwammen gezielt auf ihre Beute zu; diese konnte sehen, dass sich Feinde näherten, und die Flucht ergreifen. Fortbewegung verläuft langsam und unsicher, solange sie nicht von Augen geleitet wird, und Augen sind nutzlos, wenn man sich nicht bewegen kann. Darum entwickelten sich Wahrnehmung und Bewegung parallel. Diese Koevolution war ein Hauptgrund für die Entstehung der heutigen Artenvielfalt.
Parkers Hypothese zur kambrischen Explosion liefert eine ausgezeichnete Vorlage zum Verständnis eines neuen, scheinbar völlig andersartigen Phänomens: der Ausbreitung der Digitaltechnik. Zwar haben Fortschritte der Kommunikationstechnik auch in der Vergangenheit unsere Welt verändert – die Erfindung der Schrift signalisierte das Ende der Vorgeschichte, die Druckerpresse erschütterte die ständische Gesellschaft –, aber die Auswirkungen der Digitaltechnik könnten alles Bisherige in den Schatten stellen. Sie wird die Macht einiger Personen und Organisationen vermehren und andere entmachten; und sie wird Chancen und Risiken mit sich bringen, die noch vor einer Generation unvorstellbar waren.
Durch die sozialen Medien verschafft das Internet dem Einzelnen globale Kommunikationswerkzeuge. Eine digitale Welt ohne etablierte Regeln tut sich auf. Dienste wie Youtube, Facebook, Twitter, Tumblr, Instagram, WhatsApp und SnapChat erzeugen neue Medien, die Telefon und Fernsehen Konkurrenz machen – und die Geschwindigkeit, mit der diese Medien auftauchen, ist atemberaubend. Da Ingenieure Jahrzehnte brauchten, um Telefon- und Fernsehnetze zu entwickeln und einzurichten, hatte die Gesellschaft Zeit, sich anzupassen. Heutzutage kann ein sozialer Dienst binnen Wochen entstehen, und womöglich nutzen ihn binnen Monaten hunderte Millionen Menschen. Das enorme Innovationstempo gibt Organisationen keine Zeit, sich an ein Medium anzupassen, bevor schon das nächste auftaucht.
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Veränderung auf Hochtouren
Die digitale Transparenz zwingt die Menschen dazu, neue Wege einzuschlagen – um sich selbst zu schützen, aber auch um ihren Nutzen aus den neuen Möglichkeiten zu ziehen.
Der überstürzte Wandel, den diese Medienflut auslöst, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Transparenz. Wir können jetzt weiter, schneller, billiger und problemloser schauen als jemals zuvor – und auch gesehen werden. Jeder von uns erkennt, dass jeder zu sehen vermag, was wir sehen; wir befinden uns in einem rekursiven Spiegelsaal gegenseitigen Wissens, der zugleich befähigt und behindert. Das uralte Versteckspiel, welches das gesamte Leben auf unserem Planeten geformt hat, verlagert auf einmal sein Spielfeld, seine Ausstattung und seine Regeln. Spieler, die sich nicht anpassen können, werden bald ausscheiden.
Unseren Organisationen und Institutionen stehen tief greifende Veränderungen bevor. Regierungen, Armeen, Kirchen, Universitäten, Banken und Firmen haben sich in einem relativ trüben Erkenntnismilieu entwickelt, in dem das meiste Wissen lokal begrenzt blieb, Geheimnisse leicht bewahrt wurden und der Einzelne kurzsichtig oder sogar blind war. Wenn diese Organisationen plötzlich in hellem Licht stehen, entdecken sie schnell, dass sie sich nicht mehr auf die alten Methoden verlassen können; sie müssen auf die neue Transparenz reagieren oder untergehen. Genau wie eine lebende Zelle eine wirksame Membran braucht, um ihre inneren Mechanismen gegen die Wechselfälle der Außenwelt zu schützen, so benötigen soziale Organisationen ein schützendes Interface zwischen ihren inneren Angelegenheiten und der Öffentlichkeit – und die alten Schutzschirme verlieren ihre Wirksamkeit.
Klauen, Kiefer, Panzer
In seinem Buch "In the Blink of an Eye" argumentierte Parker, die äußeren harten Körperteile der Fauna hätten am unmittelbarsten auf den extremen Selektionsdruck der kambrischen Explosion reagiert. Die plötzliche Transparenz der Meere führte zur Entstehung kameraähnlicher Sehorgane, die wiederum eine rasche Anpassung von Klauen, Kiefern, Panzern und schützenden Körperteilen nach sich zogen. Außerdem entwickelten sich Nervensysteme, als manche Tiere begannen, sich als Räuber zu betätigen, während andere zu Flucht und Tarnung übergingen.
Analog können wir erwarten, dass Organisationen auf den digitaltechnisch verursachten Druck der sozialen Transparenz mit Anpassungen ihrer äußeren Körperteile reagieren. Außer den Organen, mit denen diese Außenschicht Güter und Dienstleistungen liefert, enthält sie informationsverarbeitende Elemente zur Kontrolle und Selbsterhaltung, zum Beispiel Abteilungen für Werbung, Marketing und Rechtsfragen. Hier macht sich die Wirkung der Transparenz am direktesten bemerkbar. Durch soziale Netze wandern Gerüchte und Meinungen jetzt in Tagen oder gar Stunden rund um den Erdball. Werbe- und Marketingabteilungen müssen neuerdings "im Gespräch bleiben" – das heißt, auf den einzelnen Kunden nachvollziehbar, ehrlich und flexibel eingehen. Organisationen mit unbeweglichen Rechtsabteilungen, die Wochen oder Monate brauchen, um Kommunikationsstrategien zu entwickeln, werden bald das Nachsehen haben. Alte Gewohnheiten müssen sich ändern, oder die Organisation versagt.
Der leichtere Zugang zu Daten ermöglicht eine neue Form des politischen Kommentars, die sich auf umfassende empirische Beobachtungen stützt. Das demonstrierte der Datenjournalist Nate Silver anlässlich der amerikanischen Präsidentenwahl 2012. Während einige Nachrichtenbüros behaupteten, sie wüssten schon nach ein paar Umfragestichproben, warum ihr Kandidat gewinnen würde, lieferte Silver Analysen, die auf sämtlichen verfügbaren Umfragedaten beruhten. Silver sagte nicht nur die Wahlergebnisse frappierend exakt voraus, sondern zerstreute durch das Veröffentlichen seiner Methodik auch jeden Verdacht, es handle sich bloß um Zufallstreffer. Seit transparente Umfragen immer leichter zugänglich werden, haben Nachrichtenagenturen und politische Kommentatoren, die einseitige Geschichten verbreiten, ein immer schwereres Spiel.
Kleine Gruppen von Menschen werden mit der neuen Transparenz am besten zurechtkommen
Vor einer ähnlichen Herausforderung stehen die Hersteller von Konsumgütern. Nutzerbewertungen von Waren und Dienstleistungen verändern das Machtverhältnis zwischen Kunden und Firmen. Das Etablieren einer Marke wird schwieriger, wenn die Meinung der Konsumenten an Gewicht gewinnt. Flexible Firmen lernen, schnell und öffentlich auf Beschwerden und negative Bewertungen zu reagieren – und falls die Kritik überwiegt, müssen sie das Produkt verändern oder ganz fallen lassen. Es hat keinen Zweck mehr, Geld in die Vermarktung mittelmäßiger Produkte zu stecken.
Kleine Gruppen von Menschen mit gleichen Werten, Überzeugungen und Zielen, die sich im Fall einer Krise mittels ad hoc improvisierten internen Kommunikationskanälen schnell absprechen können, werden mit der neuen Transparenz am besten zurechtkommen. Um diese flexiblen Organisationen von großen hierarchisch gegliederten Bürokratien zu unterscheiden, könnte man sie "Adhokratien" nennen. Wenn die Zwänge der wechselseitigen Transparenz weiter wachsen, werden sich vermutlich neuartige Organisationsformen herausbilden, die viel dezentraler arbeiten als heutige. Zudem dürfte der Selektionsdruck kleinere Gebilde favorisieren und Großorganisationen vielleicht überhaupt zum Aussterben verurteilen.
Geheimnisse ohne Dauer
Von Louis D. Brandeis (1856-1941), Richter am Obersten Gerichtshof der USA, stammt der Ausspruch: "Sonnenlicht gilt als das beste Desinfektionsmittel." Das stimmt sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn. Doch Sonnenlicht kann auch gefährlich sein. Töten wir mit unserem Reinigungseifer nicht zu viele nützliche Zellen ab? Laufen wir nicht Gefahr, den Zusammenhalt oder die Wirksamkeit von Organisationen zu zerstören, indem wir ihr Innenleben allzu sehr entblößen?
Brandeis war ein prinzipieller Gegner der Geheimhaltung. Offenbar meinte er, je transparenter eine Institution sei, desto besser. Gut 100 Jahre später kann die von ihm angestoßene Kampagne viele Erfolge vorweisen. Doch trotz aller politischen Phrasen über die segensreichen Vorzüge der Transparenz herrscht in den Zentren der Macht weiterhin Geheimhaltung – und das aus gutem Grund.
Eine biologische Betrachtung macht deutlich, dass Transparenz nicht nur Vorteile hat. Tiere und sogar Pflanzen informieren sich mit ihren Sinnesorganen über die Umgebung und handeln, um ihr Wohlergehen zu mehren. In ähnlicher Weise ist eine menschliche Organisation ein Akteur, der aus zahlreichen tätigen, lebenden Teilen besteht – aus Menschen. Doch anders als pflanzliche oder tierische Zellen haben Menschen vielerlei Interessen und Wahrnehmungsfähigkeiten. Ein vielzelliger Organismus muss nicht befürchten, dass seine Bestandteile von Bord gehen oder eine Meuterei anzetteln; außer im Fall einer Erkrankung sind Zellen gelehrige, gehorsame Sklaven. Dagegen verfügen Menschen über individuelle Macht und sind äußerst neugierige Wesen.
Das war nicht immer so. In früheren Zeiten konnten Diktatoren hinter hohen Mauern ganz ungehindert herrschen. Sie verfügten über hierarchische Organisationen aus Funktionären, die sehr wenig von dem System wussten, dem sie angehörten, und noch weniger vom Zustand der Welt, ob nah oder fern. Die Kirchen sind seit jeher besonders geübt darin, die Neugier ihrer Mitglieder zu durchkreuzen; sie liefern ihnen unzureichende oder verzerrte Informationen über den Rest der Welt und hüllen die internen Handlungen, Geschichten, Finanzen und Ziele in geheimnisvollen Nebel. Auch Armeen pflegen ihre Strategien geheim zu halten – und zwar nicht nur vor dem Feind, sondern auch vor der Truppe. Soldaten, welche die mutmaßlichen Opferzahlen einer Operation kennen, werden nicht so gut kämpfen wie diejenigen, die von ihrem wahrscheinlichen Schicksal keine Ahnung haben. Außerdem kann ein unwissender Soldat weniger preisgeben, wenn er in Gefangenschaft gerät.
Eine grundlegende Erkenntnis der Spieltheorie besagt, dass die Akteure Geheimnisse bewahren müssen. Wer einem Mitspieler den eigenen Zustand enthüllt, verliert wertvolle Autonomie und läuft Gefahr, manipuliert zu werden. Um auf einem freien Markt in fairen Wettbewerb zu treten, schützen die Firmen die Rezepte für ihre Produkte, ihre Expansionspläne und andere Unternehmensdaten. Schulen und Universitäten müssen ihre Prüfungsaufgaben bis zum Zeitpunkt des Examens unter Verschluss halten. US-Präsident Barack Obama versprach zwar eine neue Ära der Regierungstransparenz, aber trotz bedeutsamer Verbesserungen herrscht in vielen Bereichen weiterhin strikte Geheimhaltung und Immunität. Das soll auch so sein. Beispielsweise müssen Wirtschaftsstatistiken bis zu ihrer offiziellen Verlautbarung geheim bleiben, damit Insider keinen Vorteil daraus ziehen können. Eine Regierung braucht ein Pokerface, um ihre Handlungen auszuführen – aber die neue Transparenz erschwert das mehr als jemals zuvor.
Wir müssen künftige Organisationen an den Werten messen, die für jeden Einzelnen gelten
Wie die Enthüllungen Edward Snowdens über die Machenschaften des US-Geheimdienstes National Security Agency (NSA) demonstrieren, kann ein einzelner "Maulwurf" oder Whistleblower eine gewaltige Organisation erheblich stören. Zwar streute Snowden seine Informationen mit Hilfe traditioneller Nachrichtenkanäle, aber erst die verstärkende Resonanz in den sozialen Medien sorgte dafür, dass die öffentliche Aufregung nicht erlahmte, die NSA dauerhaft unter internationalen Druck geriet und die US-Regierung handeln musste.
Die NSA reagiert darauf mit einer drastischen Anpassung ihrer "Außenhaut". Die bloße Tatsache, dass sie sich öffentlich gegen Snowdens Anschuldigungen verteidigte, war ohne Beispiel für eine Organisation, die lange in völliger Verborgenheit agiert hatte. Sie muss nun herausfinden, welche Art von Geheimnissen sie in einer immer transparenteren Welt überhaupt zu bewahren vermag. Der frühere NSA-Chefberater Joel Brenner kommentierte den plötzlichen Wandel der Arbeitsbedingungen anlässlich eines Forums, das im Dezember 2013 am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology stattfand: "Sehr wenig wird künftig geheim sein, und was geheim gehalten wird, wird nicht sehr lange geheim bleiben … Das eigentliche Ziel der Geheimhaltung ist jetzt die Verlängerung der Zerfallszeit von Geheimnissen. Sie sind wie radioaktive Elemente."
Als Optimisten hoffen wir, dass diese Umbruchperiode uns Organisationen beschert, die den ethischen Maßstäben der Zivilgesellschaft besser entsprechen, und dass wirksame neue Verfahren zur Korrektur unerwünschten Organisationsverhaltens entstehen. Dabei können wir nicht ausschließen, dass unsere Nachrichtendienste dauerhaft geschwächt werden und künftig Gefahren schlechter erkennen.
Informationskriege
Die kambrische Fauna erfand bei ihrem evolutionären Rüstungswettlauf eine Fülle von Ausweichmanövern und Gegenmaßnahmen, und dieses Arsenal von Finten ist seitdem fortwährend gewachsen. Die Tiere haben Tarnungen und Alarmrufe entwickelt sowie grelle Markierungen, die möglichen Räubern fälschlich anzeigen, die Beute sei giftig. Die neue Transparenz wird zu einer ähnlichen Flut von Techniken für den Informationskrieg führen: Kampagnen zur Diskreditierung von Quellen, Präventivangriffe, verdeckte Operationen und so fort.
Die Natur hat seit jeher die Entwicklung täuschender Schutzmechanismen angeregt. Der Tintenwolke, die ein Kopffüßer auf der Flucht vor einem Räuber ausstößt, entsprechen im modernen Luftkrieg Wolken von Metallfäden, die Radarstrahlen reflektieren, oder Scheingefechtsköpfe, die Abwehrraketen irreführen. Wir sagen Täuschmittel voraus, die einfach aus Megabytes von Desinformation bestehen. Sie dürften rasch von raffinierteren Suchmaschinen entlarvt werden, was wiederum die Erzeugung noch trügerischerer Falschmeldungen provoziert. Zugleich entstehen immer neue Verfahren zur Verschlüsselung und Dechiffrierung, mit denen Organisationen und Einzelpersonen ihre Daten zu schützen suchen.
Eine Artenexplosion von Organisationen
Aus unserem Vergleich mit der kambrischen Explosion folgt schließlich, dass wir bald eine enorme Artenvielfalt von Organisationen erleben werden. Das geschieht derzeit noch nicht, aber wir können nach Vorzeichen Ausschau halten:
Anscheinend stehen wir tatsächlich am Beginn einer radikalen Auffächerung des Stammbaums menschlicher Organisationsformen.
Das Tempo, in dem die Transparenz eine Organisation prägt, hängt von deren Stellung im Wettbewerb ab – quasi von ihrer ökologischen Nische. Firmen sind dem Einfluss der öffentlichen Meinung am meisten ausgesetzt, denn der Kunde kann sich leicht für Alternativen entscheiden. Wird eine über Jahrzehnte hinweg aufgebaute Marke vernachlässigt, verschwindet sie vielleicht binnen Monaten vom Markt. Kirchen und Sportvereine sind durch die tief verwurzelten kulturellen Gewohnheiten und sozialen Vernetzungen ihrer Mitglieder etwas besser geschützt. Doch wenn Kindesmissbrauch oder Kopfverletzungen, die vor dem Aufkommen des Internets lange ignoriert wurden, ins grelle Licht der Transparenz geraten, müssen sich selbst die mächtigsten dieser Organisationen anpassen – oder sie gehen unter.
Regierungssysteme sind am besten geschützt vor unmittelbarem evolutionärem Druck. Durch soziale Medien forcierte Proteste können zwar Regierende und Parteien stürzen, aber die etablierten Staatsorgane bleiben von einem Wechsel der politischen Führung meist ziemlich unberührt. Der Staatsapparat ist nur geringem Wettbewerbsdruck ausgesetzt und entwickelt sich deshalb am langsamsten. Doch selbst hier sollten wir einen erheblichen Wandel erwarten, denn die Macht, welche Einzelpersonen und Außenseiter durch den Einblick in Organisationen gewinnen, wird zweifellos zunehmen. Unter öffentlichem Druck gewähren Regierungen Zugang zu riesigen Strömen von Rohdaten, die über interne Vorgänge Auskunft geben. In Verbindung mit Fortschritten in groß angelegter Musteranalyse, Datenvisualisierung und datengestütztem Journalismus beschleunigen machtvolle soziale Rückkopplungsschleifen die Transparenz von Herrschaftssystemen.
Die neu entstehende menschliche Ordnung stößt allerdings an gewisse selbst gesetzte Grenzen. Ameisenstaaten können mehr erreichen als einzelne Ameisen, und ebenso überschreiten menschliche Organisationen die Fähigkeiten Einzelner. So können Erinnerungen, Überzeugungen, Pläne, Aktionen und vielleicht sogar Werte entstehen, die weit über menschliches Maß hinausgehen. Doch unser Entwicklungsweg schreibt uns nun einmal vor, noch so übermenschliche Organisationen an den Werten zu messen, die für jedes Individuum gelten. Diese selbstregulierende Dynamik, welche die beschleunigt wachsende Fähigkeit zur Kommunikation zwischen Mensch und Maschine dem Wohl des Individuums unterwirft, zeichnet unsere Gattung vor anderen Lebensformen aus.
Quelle: https://www.spektrum.de/news/wie-digitale-transparenz-die-welt-veraendert/1347106